Landesstrategiekonferenz Politisch motivierte Kriminalität

Potsdam

Überregional

Kategorie
Die Polizei
Datum
05.11.2021

Vor dem Hintergrund steigender Fallzahlen bei Politisch motivierter Kriminalität haben Experten unter dem Titel „Extremismus im Cyberraum – Radikalisierung und Verschwörungstheorien“ auf Einladung des Landeskriminalamts Brandenburg über aktuelle Entwicklungen in der politisch motivierten Kriminalität diskutiert. Im Gegensatz zu anderen Kriminalitätsbereichen, deren Fallzahlen sinken, gab es bei der Politisch motivierten Kriminalität in den letzten zehn Jahren eine Steigerung von über 60 Prozent. Waren es im Jahr 2011 noch 1.410 Fälle, so wurden im Jahr 2020 insgesamt 2.250 Fälle Politisch motivierter Kriminalität registriert. Für das laufende Jahr wird ein weiterer Anstieg erwartet.

Staatssekretär im Ministerium des Innern und für Kommunales Uwe Schüler:
„Es gibt einen Unterschied zwischen legitimer Kritik und dem Verbreiten von extremistischem Gedankengut. Die freie Meinungsäußerung ist ein hohes Gut. Falschaussagen, die zu kriminellen Handlungen ermuntern, können aber nicht toleriert werden. Wir müssen die „roten Linien“ zwischen Meinungsfreiheit und Strafbarkeit klar benennen und durchsetzen, um Hass in der Gesellschafft keinen Raum zu lassen.“

Vor allem Straftaten im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien, die keiner politischen oder religiösen Richtung zuzuordnen sind, haben im aktuellen Jahr stark zugenommen. Erfolgte 2020 in dem Phänomenbereich der nicht zuordenbaren Politisch motivierten Kriminalität gegenüber dem Vorjahr noch ein Rückgang um 189 auf 290 Fälle ist 2021 mit einem Anstieg zu rechnen.

Polizeipräsident Oliver Stepien:
„Wir dürfen mit unseren Anstrengungen gegen politischen Extremismus nicht nachlassen dürfen. Der Cyberraum kennt keine geographischen Landesgrenzen, das Internet und Messengerdienste spielen als Täterplattform eine immer größere Rolle. Vor allem die in der heutigen Zeit zunehmenden Verschwörungstheorien schaffen eine Basis für neue Formen der Radikalisierung, denen wir entschieden entgegentreten müssen.“

Das Land Brandenburg hat deshalb seine Anstrengungen im Kampf gegen Politisch motivierte Kriminalität weiter ausgebaut. So wurde die Überprüfung von potenziellen Gefährdern intensiviert und eine Ansprechstelle für Mandatsträger geschaffen, an die sich diese bei Bedrohungen im Internet wenden können.

Die staatlichen Covid-19-Schutzmaßnahmen seien ein polarisierendes Thema in der öffentlichen Wahrnehmung, erklärte der Leiter der Abteilung Zentraler Staatsschutz/Terrorismusbekämpfung im Landeskriminalamt Brandenburg, Olaf Berlin. Akteure der rechten Szene versuchten, diesen öffentlichen Resonanzraum zu erschließen und darüber Anhänger zu gewinnen. Die Corona-Pandemie spiele vor allem auch in der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ weiterhin eine zentrale Rolle. Die Maßnahmen würden als schwerwiegende Grundrechtseingriffe bis hin zur vermeintlichen Einführung einer „Corona-Diktatur“ diffamiert. Eine Mobilisierung für Aktionen außerhalb des Internets findet jedoch kaum noch statt. Die hauptsächlichen Aktivitäten beschränken sich auf die Verbreitung von Propaganda und Desinformation im Internet, insbesondere über soziale Medien oder auch eigene Internetpräsenzen.

Legitime Proteste und Demonstrationen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen würden immer wieder instrumentalisiert und Eskalationen provoziert, berichtete Axel Heidrich, Leiter des Referats Politischer Extremismus im Ministerium des Innern und für Kommunales. Dabei sei das Phänomen „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ praktisch deckungsgleich mit Reichsbürger-Aktivitäten und rechtsextremistischen (Verdachts-)Bestrebungen.

„Das gezielte Verschieben der Grenzen zwischen Extremismus und freier Meinungsäußerung unter Ausnutzung der Fragen, Sorgen und Ängste der Menschen in unserem Land zeigt einmal mehr, dass aktuell vom entgrenzten Rechtsextremismus die größte Gefahr für unsere freiheitliche Demokratie ausgeht.“, so Heidrich. Die Akteure griffen dabei auf geschichtsrevisionistische Vergleiche zurück, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu delegitimieren und zum „Widerstand“ gegen die vermeintliche „Diktatur“ aufzurufen. Führende Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien würden zu Feindbildern des „deutschen Volkes“ erklärt.

Einen Blick in die Geschichte warf auch der Rechtspsychologe Christian Hartings vom Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen. In seinem Vortrag beschäftigte er sich zunächst mit der historischen Entwicklung des Terrorismus und ging auf globale Gemeinsamkeiten des 4-Wellen-Modells ein, welches ein regelmäßiges Aufflammen terroristischer Phänomene darstellt. Anhand verschiedener Modelle zeigte Hartings auf, wie Radikalisierung entsteht und welche Maßnahmen sich daraus für die Gefahrenabwehr ergeben.

Mit dem besonderen Feld der politisch motivierten Kriminalität im Internet, einem Medium, das aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist, hat sich Kriminaldirektor Frank Heimann, Leiter der Fachgruppe Internet im Bundeskriminalamt beschäftigt. „Die Möglichkeiten der weltweiten Informationsvernetzung haben unsere Arbeitswelt und unser Privatleben nachhaltig verändert. Dies leider nicht nur im positiven Sinn. Eine hässliche Facette ist die zunehmende Verbreitung von Hass und Hetze im Netz.“, so Heimann. Hier spanne sich ein weiter Bogen von einfachen Beleidigungen über Mobbing und Stalking bis zu Morddrohungen und verschiedenen anderen Straftaten, wie z.B. Volksverhetzung. Das Bundeskriminalamt habe daher seine Organisation angepasst und die Strategie zur Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität -rechts- und der Hasskriminalität weiterentwickelt. Ihre volle Wirkung entfalten könnten die Maßnahmen aber wohl erst, wenn es gelinge, Hetzern und Straftätern ihren digitalen Resonanzraum zu entziehen.

Psychologierat Jan-Gerrit Keil vom LKA Brandenburg wies darauf hin, dass nicht jeder Verschwörungsgläubige auch Reichsbürger sei. Allerdings sei jeder Reichsbürger verschwörungsgläubig. „Die Reichsbürger glauben mindestens daran, dass die Bundesrepublik nicht rechtmäßig existiert und wer an eine Verschwörung glaubt, dass wissen wir aus der Wissenschaft, der glaubt auch mit höherer Wahrscheinlichkeit an eine zweite.“ Vor allem Verschwörungsmythen in Bezug auf Chemtrails, Reptiloide und Flugscheiben (Ufos) seien im Milieu der Reichsbürger weit verbreitet. Unter dem Eindruck der Pandemie habe sich der alte antisemitische Mythos der Impfverschwörung wieder stärker verbreitet, insbesondere getrieben durch die QAnon-Verschwörungserzählung. Da machten auch die Reichsbürger keine Ausnahme.

Prof. Dr. Günter Morsch, ehemaliger Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, sprach unter dem Titel „Menschen im Fadenkreuz des rechten Terrors“ über die Entwicklung von rechtsextremistischer und antisemitischer Gewalt, die sich nach der deutschen Einheit sehr schnell auch gegen die Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer von NS-Verbrechen richtete. Sachsenhausen und Buchenwald hätten dabei im Zentrum revisionistischer Geschichtsleugnungen gestanden. „Die bis dahin weitgehend noch unaufgearbeitete zweifache Geschichte beider Lager, als KZ und als sowjetische Speziallager, eignete sich dafür in besonderem Maße. Die teilweise auch von Organisationen der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft verbreiteten Geschichtslegenden und -mythen fanden in rechtsradikalen Publikationen und Medien ein breites Echo.“ Morddrohungen gegen den Leiter von Sachsenhausen seien seit dem Ende der Neunziger Jahre im Internet kursiert und hätten schließlich Eingang in die sogenannten Todeslisten des NSU gefunden.

Auch die psychologische Seite von Verschwörungstheorien wurde im Rahmen der Konferenz beleuchtet. Dr. Marius Raab von der Universität Bamberg erklärte, dass Menschen nach Struktur und Bedeutung suchten, ihre Umwelt verstehen und gestalten und ihren Selbstwert schützen wollten. Er riet deshalb zu einer differenzierten Betrachtung: "Verschwörungstheorien beruhen auf Mechanismen unserer Psyche, die ganz normal und in anderen Kontexten sinnvoll und gesund sind. Mit dieser Perspektive können wir Phänomene wie die 'Querdenker' besser verstehen und auch differenzierter damit umgehen." Dies böte die Chance, die Menschen noch zu erreichen, die zwar mit möglicherweise gefährlichen Theorien sympathisieren, aber noch offen für andere Positionen sind. Gleichzeitig eröffne sie die Chance, Radikalisierungsprozesse besser zu verstehen und für die Gefahrenabwehr nutzbar zu machen.

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